Gesamt- und Kreditwirtschaft
Gegenwärtig befindet sich die deutsche Wirtschaft in einem eingetrübten Konjunkturumfeld. Der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hilft zwar das Auslaufen der Pandemiebeschränkungen; der Krieg in der Ukraine, die damit verbundenen Energiepreissteigerungen und die sich neuerlich verschärfenden Lieferengpässe stellen jedoch eine gravierende Belastung dar. Vor diesem Hintergrund hat die Deutsche Bundesbank daher ihren Wachstumsausblick für Deutschland 2022 merklich nach unten korrigiert. Während die Bundesbank-Ökonomen in ihrer Projektion vom Dezember 2021 noch mit einem Anstieg des BIP um 4,1 Prozent rechneten, gehen sie im Basisszenario ihrer aktuellen Schätzung von Juni 2022 lediglich von einem BIP-Zuwachs um 1,9 Prozent aus.
Grundannahme für dieses aktuelle Szenario ist, dass sich der Ukrainekrieg und seine Folgen nicht weiter verschärfen werden. Neben diesem Basisszenario betrachten die Bundesbank-Fachleute noch ein alternatives Risikoszenario, in dem ein Abbruch der Energielieferungen aus Russland unterstellt wird. Sollte dieses Szenario eintreten, würde sich nach ihrer Einschätzung ein markanter Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten ergeben. Für diesen Fall erwarten die Experten 2022 lediglich einen BIP-Anstieg um 0,5 Prozent, an den sich 2023 ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um deutliche 3,2 Prozent anschließen dürfte.
Im Hinblick auf die hiesigen Verbraucherpreise prognostiziert die Deutsche Bundesbank im Basisszenario für 2022 ein Anziehen der Inflationsrate, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), auf 7,1 Prozent. Ihrer Einschätzung nach hat sich ein hoher Preisdruck aufgebaut, der auch dann noch nachwirken wird, falls annahmegemäß in der zweiten Jahreshälfte die Rostoffpreise wieder etwas zurückgehen und sich die Lieferengpässe allmählich auflösen werden. Bezüglich der Arbeitsmarktentwicklung erwarten die Wirtschaftsforscher, dass diese robust bleiben wird. Die Erwerbstätigenzahl dürfte in diesem Jahr um 1,3 Prozent steigen. Für die Arbeitslosenquote wird ein Rückgang auf 5,0 Prozent prognostiziert.
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine hat die Inflation nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Eurozone und ganz Europa im Frühjahr 2022 stark zugelegt. Anfangs getrieben von Energie- und Rohstoffpreisen – aufgrund der Importabhängigkeit des Kontinents von Russland – hat die Inflation im Jahresverlauf an Breite gewonnen. Zum Vorjahresmonat lag die Verbraucherpreisinflation (gemessen am HVPI) in Deutschland im Mai 2022 bei 8,7 Prozent (Eurozone: 8,1 Prozent). Die Kernrate, ohne Energie- und Nahrungsmittel, betrug 4,8 Prozent (Eurozone: 3,8 Prozent). Auch in den USA ist die Inflation auf einem historischen Hochstand (im April lag sie bei 8,8 Prozent).
International reagierten die Notenbanken hierauf mit zum Teil starken Zinserhöhungen. Die US-Notenbank Fed erhöhte erstmals im März 2022 ihren Leitzins um 25 Basispunkte, der im Mai eine Erhöhung um 50 Basispunkte und im Juni um 75 Basispunkte auf einen Zinssatz von 1,5 bis 1,75 Prozent folgte. Zudem begann die Notenbank mit dem Abbau der Bilanzpositionen, die sie während der Pandemie mittels Anleihekäufen aufgebaut hatte. Für den weiteren Jahresverlauf stellte sie weitere Zinserhöhungen in Aussicht. Die EZB kündigte am 9. Juni 2022 eine Erhöhung ihrer drei zentralen Zinssätze um 25 Basispunkte für den Juli an. Zudem sollen die Nettoanleihenkäufe des Programms APP zum 1. Juli beendet werden; das Pandemiekaufprogramm PEPP wurde bereits zum zweiten Quartal beendet. Die dadurch in der EZB-Bilanz gehaltenen Papiere sollen aber vorerst vollständig refinanziert werden. Weitere Zinsschritte der EZB sind je nach Entwicklung der mittelfristigen Inflation sowie unter Würdigung der Lage auf den Rentenmärkten in der Eurozone möglich.
Die für die Gesamtwirtschaft prognostizierten Effekte wirken sich auch auf die Kreditwirtschaft und ihren Ausblick für das Geschäftsjahr 2022 aus. Die Risiken aus dem zuletzt stark gestiegen Zinsniveau liegen in Bewertungseffekten der Eigenanlagen und des Standards 3 des Bankenfachausschusses. Chancen resultieren im Kundengeschäft. Durch die gestiegenen Zinsen können grundsätzlich höhere Margen im Aktivgeschäft erzielt werden. Die Erwartung weiter steigender Zinsen führt auch zu einer stärkeren Nachfrage auf Basis aktueller Konditionen. Auch dieser Effekt führt im Ergebnis zu steigenden Zinseinnahmen. Die steigenden Zinsen wirken auch auf die Passivseite und wir erwarten, dass Negativzinsen für Kunden bald keine Rolle mehr spielen werden. Ein wesentlicher Anstieg der Passivzinsen über null ist jedoch stark von der Entwicklung der Alternativanlagen abhängig und wird somit eher zeitverzögert erwartet. Durch die hohe konjunkturelle und geopolitische Unsicherheit ist von einer erhöhten Risikovorsorge in den Sektoren Unternehmen und private Haushalte auszugehen.
Die Kreditwirtschaft steht weiterhin unter erheblichem Anpassungs- und Kostendruck, der einerseits durch einen wettbewerbsinduzierten Strukturwandel und andererseits durch die aufsichtsrechtliche Reformagenda bedingt ist. Eine Vielzahl oftmals technologiegetriebener Wettbewerber stellt die Kreditwirtschaft vor die Herausforderung, bestehende Geschäftsmodelle zu hinterfragen und bei Bedarf anzupassen sowie die Effizienz durch die Digitalisierung der Geschäftsprozesse inklusive der Vertriebswege deutlich zu steigern. Entsprechende Investitionen dürften weiterhin die Kostenseite der Branche belasten, bevor sich erwartete Steigerungen der Profitabilität realisieren lassen.
Als Reaktion auf die aufsichtsrechtlichen Rahmenbedingungen hat die Finanzindustrie ihren Verschuldungsgrad während der vergangenen Jahre reduziert und ihre Risikotragfähigkeit durch eine verbesserte Liquiditäts- und Eigenkapitalausstattung deutlich gestärkt. In diesem Licht sind auch die derzeit laufende Umsetzung des finalen Basel-III-Rahmenwerks sowie die korrespondierenden Anforderungen der EU-Bankenregulierung auf Brüsseler Ebene zu sehen. Weiterhin wird die BaFin die spezifischen Risiken in Deutschland mit einem antizyklischen Puffer und einem sektoralen Systemrisikopuffer für den Wohnimmobiliensektor ab dem Jahr 2023 belegen. Die möglichen Auswirkungen auf die Kreditvergabe beziehungsweise die Konditionen daraus werden zu beobachten sein.
Genossenschaftliche FinanzGruppe Volksbanken Raiffeisenbanken
Die genossenschaftliche FinanzGruppe ist mit dem Rückenwind eines sehr guten Jahresergebnisses 2021 in das laufende Geschäftsjahr 2022 gestartet. Für die weitere Ergebnisentwicklung jedoch können sich die bereits oben beschriebenen Risiken aus dem gesamtwirtschaftlichen Umfeld ergeben, die auch die Finanz- und Ertragslage der genossenschaftlichen FinanzGruppe spürbar belasten würden.
Der Zinsüberschuss wird sich im Geschäftsjahr 2022 aus heutiger Sicht angesichts der steigenden Zinsen sowie der Rückführung der TLTRO-III-Offenmarktgeschäfte tendenziell konstant entwickeln. Als stabilisierend für die Entwicklung des Zinsüberschusses wird die prognostizierte positive Entwicklung des zinstragenden Geschäfts angesehen, die jedoch stark von der weiteren Neugeschäftsentwicklung abhängt.
Der Provisionsüberschuss wird im Geschäftsjahr 2022 im Vergleich zum außerordentlich hohen Niveau des Geschäftsjahres 2021 etwas niedriger erwartet, aber insbesondere aufgrund steigender volumenabhängiger Assets under Management und der damit verbundenen Erträge weiterhin maßgeblich zum Ergebnis beitragen.
Ein belastender Faktor für das konsolidierte Ergebnis vor Steuern sind die deutlich erhöhten Bewertungseffekte in den Wertpapieranlagen durch das deutlich höhere Zinsniveau, die sich insbesondere auf das Ergebnis aus Finanzanlagen auswirken werden. Daher ist davon auszugehen, dass das Ergebnis aus Finanzanlagen im Geschäftsjahr 2022 stark zurückgehen wird. Jedoch rechnen wir nicht mit wesentlichen, dauerhaft bonitätsinduzierten Verschlechterungen.
Die Aufwendungen für die Risikovorsorge werden im Geschäftsjahr 2022 im Vergleich zur verhältnismäßig niedrigen Risikovorsorge des vorherigen Geschäftsjahres auf einem wesentlich höheren Niveau gesehen. Die exakte Entwicklung ist mit großer Unsicherheit behaftet, insbesondere da die Auswirkungen der stark gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise noch nicht vollumfänglich bei den Firmen- beziehungsweise Privatkunden angekommen sowie viele Lieferketten erneut stark ins Stocken geraten oder gerissen sind. Insgesamt besteht hier das Risiko steigender Insolvenzen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Kreditbücher der Kreditinstitute.
Das Ergebnis aus dem Versicherungsgeschäft dürfte im Geschäftsjahr 2022 stark rückläufig ausfallen. Diese Prognose stützt sich im Wesentlichen auf den erwarteten Rückgang des Kapitalanlageergebnisses, der die geplante positive Entwicklung der verdienten Beiträge im Versicherungsgeschäft in den unterschiedlichen Geschäftsbereichen des Geschäftssegments "Versicherung" erwartungsgemäß überkompensieren wird.
Im Geschäftsjahr 2022 dürften die Verwaltungsaufwendungen gegenüber dem Geschäftsjahr 2021 aufgrund wachstumsbedingter Investitionen bei zugleich konstant bis leicht steigenden Personalaufwendungen und einem konsequenten Kostenmanagement leicht ansteigen. Die Aufwand-Ertrags-Relation wird im Geschäftsjahr 2022 bedingt durch im Vergleich zum Geschäftsjahr 2021 spürbar niedrigere Ertragserwartungen sowie leicht steigende Aufwendungen deutlich ansteigen.
Die regulatorischen Kapitalquoten werden sich durch die zinsinduzierten Bewertungseffekte sowie regulatorischen Änderungen (zum Beispiel Wegfall der Haftsummenzuschläge) im laufenden Geschäftsjahr rückläufig entwickeln. Darüber hinaus wird mit einem weiterhin anhaltenden, jedoch leicht schwächeren RWA-Wachstum gerechnet.
Nach dem sehr guten Geschäftsjahr 2021 und unter Berücksichtigung aller derzeit bewertbaren Effekte gehen wir von einem deutlich niedrigeren konsolidierten Ergebnis vor Steuern für das Geschäftsjahr 2022 aus.